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Le Corbusier: Verse une architecture, Paris 1923 (Auszug)
INGENIEUR-ÄSTHETIK, BAUKUNST
Ingenieur-Ästhetik, Baukunst: beide im tiefsten Grunde dasselbe, eins aus dem anderen folgend,
das eine in voller Entfaltung, das andere in peinlicher Rückentwicklung.
Der Ingenieur, beraten durch das Gesetz der Sparsamkeit und geleitet durch Berechnungen, versetzt
uns in Einklang mit den Gesetzen des Universums. Er erreicht die Harmonie.
Der Architekt verwirklicht durch seine Handhabung der Formen eine Ordnung, die reine
Schöpfung seines Geistes ist: mittels der Formen rührt er intensiv an unsere Sinne und erweckt
unser Gefühl für die Gestaltung; die Zusammenhänge, die er herstellt, rufen in uns tiefen Widerhall
hervor, er zeigt uns den Maßstab für eine Ordnung, die man als im Einklang mit der Weltordnung
empfindet, er bestimmt mannigfache Bewegungen unseres Geistes und unseres Herzens: so wird
die Schönheit uns Erlebnis.
DREI MAHNUNGEN AN DIE HERREN ARCHITEKTEN
I. DER BAUKÖRPER
Unsere Augen sind geschaffen, die Formen unter dem Licht zu sehen.
Die primären Formen sind die schönen Formen, denn sie sind klar zu lesen.
Die Architekten von heute verwirklichen keine einfachen Formen mehr.
Die Ingenieure verwenden, da sie auf dem Wege der Berechnung vorgehen, geometrische Formen
und befriedigen unsere Augen durch die Geometrie und unseren Geist durch die Mathematik. Ihre
Werke sind auf dem Wege zur großen Kunst.
II. DIE AUSSENHAUT
Ein Baukörper wird von der Außenhaut umhüllt, einer Außenhaut, die sich den formbestimmenden
und formerzeugenden Elementen des Baukörpers entsprechend gliedert und die Individualität
dieses Baukörpers festlegt.
Die Architekten haben heutzutage Angst, die Außenhaut dem Gesetz der Geometrie zu unterwerfen.
Die großen Probleme der modernen Konstruktionen werden auf der Grundlage der Geometrie
verwirklicht werden.
Die Ingenieure gehorchen den strengen Forderungen eines unausweichlichen Programms und verwenden die formerzeugenden und formanzeigenden Elemente. Sie schaffen klare und eindrucksvolle Tatsachen der Formgestaltung.
III. DER GRUNDRISS
Aus dem Grundriß entsteht alles.
Ohne Grundriß ist Unordnung, Willkür.
Der Grundriß bedingt bereits die Wirkung auf die Sinne.
Die großen Probleme von morgen, die von den Bedürfnissen der Gesamtheit diktiert werden, werfen die Frage des Grundrisses erneut auf.
Das moderne Leben verlangt, ja fordert für das Haus und die Stadt einen neuen Grundriß.
DIE MASS-REGLER
Die naturgegebene Geburt der Baukunst.
Die Verpflichtung zur Ordnung. Die Maß-Regler sind Selbstversicherung gegen die Willkür. Sie befriedigen den Geist.
Die Maß-Regler sind Hilfsmittel und kein Rezept. Ihre Wahl und ihre Ausdrucksformen sind integraler Teil der schöpferischen Gestaltung der Architektur.
AUGEN, DIE NICHT SEHEN...
I. DIE OZEANDAMPFER
Ein großes Zeitalter ist angebrochen.
Ein neuer Geist ist in der Welt.
Es gibt eine Fülle von Werken des neuen Geistes; man begegnet ihnen vor allem in der industriellen Produktion.
Die Architektur erstickt am alten Zopf.
»Stile« sind Lüge.
Der Stil ist eine Wesens-Einheit, die alle Werke einer Epoche durchdringt und aus einer fest umrissenen Geisteshaltung hervorgeht.
Unsere Zeit prägt täglich ihren Stil.
Leider sind unsere Augen noch nicht fähig, ihn zu erkennen.
II. DIE FLUGZEUGE
Das Flugzeug ist ein Ausleseprodukt hoher Qualität.
Die Lehre, die uns das Flugzeug erteilt, liegt in der Logik, die Problemstellung und Verwirklichung diktierte.
Das Problem des Hauses ist noch nicht gestellt worden.
Die gegenwärtige Handhabung der Architektur entspricht nicht mehr unseren Bedürfnissen.
Trotzdem gibt es Standardlösungen für die Wohnungsfrage.
Die Mechanik trägt in sich den Auslese fördernden Faktor der Sparsamkeit.
Das Haus ist eine Wohnmaschine.
III. DIE AUTOS
Um an das Problem der Perfektion heranzugehen, müssen Typen entwickelt werden. Der Parthenontempel ist ein an einem Typ entwickeltes Ausleseprodukt.
Baukunst ist Typenbildung. Typen sind Sache der Logik, der Analyse, gewissenhaften Studiums; sie entstehen auf Grund eines richtig gestellten Problems. Die Erfahrung legt den Typ dann endgültig fest.
BAUKUNST
I. DIE LEHRE ROMS
Baukunst heißt mit rohen Stoffen Beziehungen herstellen, die uns anrühren.
Baukunst steht jenseits von Nützlichkeitsfragen.
Baukunst ist eine Frage des Gestaltens.
Geist der Ordnung, Einheit des Gestaltungswillens.
Sinn für Zusammenhänge; die Baukunst schaltet mit Größen.
Aus trägen Steinen baut die Leidenschaft ein Drama.
II. DAS BLENDWERK DER GRUNDRISSE
Der Grundriß wirkt vom Innen auf das Außen; das Äußere ist Resultat des Inneren
Die Elemente der Architektur sind Licht und Schatten, Mauer und Raum.
Anordnung heißt Hierarchie der Ziele, Klassifizierung der Gestaltungsabsichten. Der Mensch sieht die Dinge der Architektur mit seinen Augen, die 1,70 Meter über dem Boden sind. Man kann nur Absichten verwirklichen wollen, die dem Auge erreichbar sind, nur Absichten verfolgen, die den Elementen der Baukunst Rechnung tragen. Verfolgt man Absichten, die nicht der Sprache der Architektur zugehören, dann verfällt man dem Blendwerk der Grundrisse, dann übertritt man aus Mangel an Vorstellungskraft oder aus Neigung zu eitlen Nichtigkeiten die Gesetze der Grundrißbildung.
III. REINE SCHÖPFUNG DES GEISTES
Die Durchbildung der Form ist der Prüfstein für den Architekten.
Dieser erweist sich an ihr als Künstler oder als einfacher Ingenieur.
Die Durchbildung der Form ist frei von jedem Zwang.
Es handelt sich dabei nicht mehr um Herkommen oder Überlieferung, noch um konstruktive Verfahren, noch um Anpassung an die Bedürfnisse des Gebrauchs.
Die Durchbildung der Form ist reine Schöpfung des Geistes; sie ruft den gestaltenden Künstler auf den Plan.
HÄUSER IM SERIENBAU
Ein großes Zeitalter ist angebrochen. Ein neuer Geist ist in der Welt.
Die Industrie, ungestüm wie ein Fluß, der seiner Bestimmung zustrebt, bringt uns die neuen Hilfsmittel, die unserer von dem neuen Geist erfüllten Epoche entsprechen.
Das Gesetz der Sparsamkeit lenkt gebieterisch unser Tun und Denken.
Das Problem des Hauses ist ein Problem unserer Zeit. Das Gleichgewicht der Gesellschaftsordnung hängt heute von seiner Lösung ab. Erste Pflicht der Architektur in einer Zeit der Erneuerung ist die Revision der geltenden Werte, die Revision der wesentlichen Elemente des Hauses.
Der Serienbau beruht auf Analyse und erperimenteller Forschung.
Die Großindustrie muß sich des Bauens annehmen und die einzelnen Bauelemente serienmäßig herstellen.
Es gilt, die geistigen Voraussetzungen für den Serienbau zu schaffen.
Die geistige Voraussetzung für die Herstellung von Häusern im Serienbau. Die geistige Voraussetzung für das Bewohnen von Serienhäusern.
Die geistige Voraussetzung für den Entwurf von Serienhäusern.
Wenn man aus seinem Herzen und Geist die starr gewordenen Vorstellungen vom Haus reißt und die Frage von einem kritischen und sachlichen Standpunkt aus ins Auge fußt, kommt man zwangsläufig zum Haus als Werkzeug, zum Typenhaus das gesund ist (auch sittlich gesund) und ebenso schön wie die Werkzeuge der Arbeit, die unser Dasein begleiten.
Schön außerdem dank der Beseelung, die künstlerischer Sinn strengen und reinen Werkzeugen vermitteln kann.
BAUKUNST ODER REVOLUTION
Auf allen Gebieten der Industrie hat man sich neue Probleme gestellt, und man hat geeignete Hilfsmittel geschaffen, sie zu lösen. Diese Tatsache bedeutet in bezug auf die Vergangenheit: Revolution.
Im Bereich des Bauens hat man begonnen, Einzelteile serienmäßig herzustellen; man hat unter dem Druck neuer wirtschaftlicher Notwendigkeiten Einzel- und Großelemente geschaffen; es sind in Hinsicht auf die Einzelteile wie auf den Zusammenbau überzeugende Leistungen erreicht worden.
In bezug auf die Vergangenheit ist das eine Revolution in den Methoden und der Größe der Bauvorhaben.
Während sich die Geschichte der Architektur auf der Suche nach Abwandlungsmöglichkeiten des Baugefüges und des Dekors nur langsam im Laufe der Jahrhunderte entwickelt, haben Eisen und Eisenbeton innerhalb von nur fünfzig Jahren Errungenschaften gezeitigt, die eine große Beherrschung der Konstruktion und eine alle Gesetze umstürzende neue Baukunst ankündigen. In bezug auf die Vergangenheit heißt das, daß »Stile« keine Daseinsberechtigung mehr für uns haben, daß sich ein Zeitstil herausgearbeitet hat; die Revolution hat sich bereits vollzogen.
Bewußt oder unbewußt hat man diese Tatsachen zur Kenntnis genommen; bewußt oder unbewußt haben sich neue Bedürfnisse herausgebildet.
Das Räderwerk der Gesellschaft ist ernstlich gestört, es schwankt zwischen einem Aufschwung von historischer Bedeutung und einer Katastrophe.
Der Urinstinkt eines jeden Lebewesens ist darauf ausgerichtet, sich eine Ruhestätte zu schaffen. Die verschiedenen arbeitenden Klassen der Gesellschaft haben heute keine angemessene Ruhestätte mehr, weder der Arbeiter der Hand noch der des Geistes.
So ist der Schlüssel für die Wiederherstellung des heute gestörten Gleichgewichts ein Bauproblem: Baukunst oder Revolution.
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